Jerry Krattiger
Jerry Krattiger
Das Konzept der Industrie 4.0 ist in der deutschen Autoindustrie entstanden und hat rasch für einen Schneeballeffekt gesorgt. Dank einer dynamischen Wirtschaftsstruktur und ausgezeichneten Rahmenbedingungen hat Freiburg dieses Konzept zu einem Eckpfeiler seiner wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie gemacht. Ein Gespräch mit Jerry Krattiger, Direktor der Wirtschaftsförderung Kanton Freiburg.
Der Begriff Industrie 4.0 ist in der Wirtschaftswelt allgegenwärtig und doch kann sich die breite Öffentlichkeit nur wenig darunter vorstellen…
Industrie 4.0 ist die Bezeichnung für den Wandel in der Industrie, der durch die Digitalisierung von Handel und Produktion ausgelöst wurde. Sie folgt auf die grossen industriellen Revolutionen, die im Laufe der Zeit mit der Mechanisierung, der Elektrifizierung und der Automatisierung eingeleitet wurden. Die Vernetzung physischer Produkte sowie deren Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, führen zu grundlegenden Veränderungen in der Arbeitsweise der Unternehmen. Smart Factories in der Industrie zeichnen sich durch eine kontinuierliche Kommunikation in Echtzeit zwischen den verschiedenen Werkzeugen und Arbeitsplätzen aus, die auf Spitzentechnologien wie dem Internet der Dinge, der künstlichen Intelligenz, der Robotik und dem 3D-Druck beruht. Der Dienstleistungssektor ist ebenfalls an diesem allgemeinen Wandel beteiligt, indem er innovative Prozesse und Geschäftsmodelle entwickelt.
Wo stehen die Schweiz und der Kanton Freiburg in diesem digitalen Wandel der Weltwirtschaft?
Dank ihren Forschungskompetenzen, ihren qualifizierten Arbeitskräften und ihrer leistungsfähigen Infrastruktur ist die Schweiz im internationalen Vergleich hervorragend aufgestellt. Der Kanton Freiburg hat die Industrie 4.0 zu einem Eckpfeiler seiner wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie gemacht. Eine Spezialisierung in diesem Bereich – der bereits 12 % des BIP und 8 % der Beschäftigung im Kanton ausmacht – soll es uns ermöglichen, uns als wichtiger Akteur dieses Wandels zu etablieren. Dabei konzentrieren wir uns auf unsere Stärken wie 3D-Druck, Roboter, Maschinen, Sensoren, Big Data und autonome Fahrzeuge.
Das ist nicht nur für die Unternehmen, die unmittelbar 4.0-Technologien herstellen, sondern für die gesamte Fertigungsindustrie ein Wendepunkt…
Ja, und diesen Unternehmen muss dabei geholfen werden, ihre Produktionsanlagen weiter anzupassen, um die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel bewältigen zu können. Dazu können wir auf ein erstklassiges Umfeld zählen, u.a. mehrere Innovationsstandorte, die fest in der Industrie 4.0 verankert sind. Ich denke dabei insbesondere an Le Vivier, ein echtes Industriezentrum, das auf Automatisierung und Robotik spezialisiert ist, sowie an das Marly Innovation Center, das mit iPrint im Bereich des Digitaldrucks über ein Forschungsinstitut von Weltrang verfügt.
Welches sind die weiteren Vorteile Freiburgs?
Auf dem Gelände von blueFACTORY befinden sich das Kompetenzzentrum ROSAS und sein Spin-off CertX, die sich im Bereich Spitzentechnologien und Zertifizierungsstandards für autonome Fahrzeuge einen Namen gemacht haben. Oder das Institut iCoSys, das auf die künstliche Intelligenz und komplexe Systeme spezialisiert ist und interdisziplinäre Ansätze entwickelt sowie eine wichtige Rolle bei der Förderung des Wissens- und Technologietransfers zwischen den Hochschulen und der regionalen Wirtschaft spielt. Die Nähe und die Anpassungsfähigkeit unserer Universität und unserer Hochschulen bleiben unsere grössten Stärken. Langfristig könnte die Industrie 4.0 die Gesamtheit des Primär- und Sekundärsektors in Freiburg betreffen, insbesondere die Biowirtschaft, in der wir bereits eine führende Rolle spielen (siehe FNF 2021, Anm.d.Red.). Der Wandel ist in vollem Gange und wir unterstützen mehrere Projekte via Neue Regionalpolitik, um die Entwicklung von Schnittstellen mit hoher Wertschöpfung zu fördern.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Das Gemeinschaftsprojekt SmartFarming hat sich zum Ziel gesetzt, die Prozesse in der landwirtschaftlichen Produktion dank der Verwendung digitaler Daten von Sensoren oder Drohnen zu optimieren. Die Echtzeitinformationen über die Feuchtigkeitsbedingungen oder das Vorhandensein von Schädlingen erlauben es, gezielt und äusserst effizient zu handeln und gleichzeitig Kosten zu sparen. Diese Prozesse haben ihren Ursprung in der Industrie 4.0. Das Synergiepotenzial ist enorm, es gibt keine Grenzen mehr.
Ist zu befürchten, dass die Industrie 4.0 sich auf den Arbeitsmarkt auswirken wird?
Die industriellen Revolutionen haben jedes Mal grosse Unsicherheiten in der Bevölkerung ausgelöst, die letztendlich jedes Mal widerlegt werden konnten. Uns erwarten grosse Umwälzungen und gewisse Berufe werden wahrscheinlich verschwinden. Aber es werden auch viele Arbeitsplätze in anderen Branchen geschaffen und neue Kompetenzen gefragt sein. Die wahre Herausforderung liegt darin, die Menschen für diese neue Realitäten auszubilden. Die Industrie 4.0 ist weit mehr als ein Risiko, sondern eine riesige Chance für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft.