Patrick Aebischer war bis Ende 2016 während fast 17 Jahren Präsident der Ecole polytechnique de Lausanne (EPFL). In dieser Zeit entwickelte sich die Hochschule zu einer technischen Universität von Weltruf. Der visionäre Freiburger ist u.a. verantwortlich für die spektakuläre Entwicklung der Humanwissenschaften, architektonisch bemerkenswerte Bauten, Erweiterungen in der Westschweiz und hat private Mittel beschafft. Der leidenschaftliche Erneuerer, unermüdliche Schaffer und unternehmerisch denkende Wissenschaftler wirft einen scharfen und kritischen Blick auf die Position und die Ambitionen seines Heimatkantons in der Lebensmittelund Foodtech-Branche.
Wie sehen Sie als Mitglied des Verwaltungsrats von Nestlé Global den aktuellen Foodtech-Hype bzw. die Beziehung zwischen Ernährung und neuen Technologien?
Ich glaube, dass die wahre Revolution von den Verbrauchern ausgehen wird. Zwischen dem steigenden Bewusstsein der jüngeren Generationen für Umweltfragen oder den Tierschutz einerseits und der zunehmenden Besorgnis der Verbraucher in Bezug auf den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit andererseits gibt es eine zunehmende Konvergenz der Themen, in deren Rahmen Lebensmittel, Produktionsmethoden oder unsere Konsumarten hinterfragt werden. Lebensmittel erhalten so einen wichtigen Stellenwert in der Gesellschaft. Bei der Ernährung geht es nicht mehr nur ums Überleben oder um den Genuss: Sie ist Teil unserer Identität. Es gibt sogar Leute, die sich wie folgt vorstellen: ‘Ich bin Veganer ’ oder ‘Ich bin Flexitarier ’!
Kann Technologie auf diese Sorgen eingehen?
Für alle diese Themen gibt es eine Fülle von technologischen und verhaltensrelevanten Lösungen, aber auch echte Herausforderungen… natürlich auch vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Dimension, denn echte Veränderungen können durch die Preisfrage und die Macht unserer Gewohnheiten gebremst werden. Sind wir wirklich bereit, mehr für frische, weniger verarbeitete, qualitativ hochwertigere Produkte zu bezahlen? Sind wir bereit, unsere Proteinquelle zu verändern, indem wir unseren Fleisch- oder Fischkonsum einschränken und durch Produkte ersetzen, die aus Insekten hergestellt werden oder aus der Biotechnologie stammen? Im Zusammenhang mit der Innovation ergeben sich hier zwei Reflexionsfelder: die inkrementelle Innovation aus der Kreativität unserer Start-ups und Unternehmen wie Nestlé und die kollektive Innovation, die unsere Gesellschaft in eine verantwortungsvollere Richtung lenken wird.
Welche Mittel stehen dem Kanton Freiburg zur Verfügung, um seine hochgesteckten Ziele in der Lebensmittel- und Foodtech- Branche zu erreichen?
Der Kanton Freiburg hat eine ganz besondere Beziehung zur Esskultur. Mit der Tradition der Kilbi (Bénichon), deren Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, trägt die Region Freiburg die Gene einer ausgeprägten Kultur des kulinarischen Genusses in sich. Eine andere Tradition, die zur alltäglichen Lebensweise der Freiburgerinnen und Freiburger gehört: Eine Sitzung ohne Restaurantbesuch ist ein Ding der Unmöglichkeit! Hinzu kommt die Dynamik der kantonalen Gastronomie, die zu den besten des Landes gehört. Über dreissig Gault&Millau-Restaurants, nicht schlecht für 320 000 Einwohner, oder? Aber Freiburg verfügt nicht zuletzt auch über eine Wirtschaftsstruktur mit einer einmaligen Dichte von Landwirtschaftsbetrieben und verarbeitenden Betrieben, insbesondere in den Bereichen Milchprodukte, Schokolade und Fleisch. Mehr als 10% des kantonalen BIP entfallen auf den Lebensmittelbereich, das ist bedeutsam.
Welche Massnahmen empfehlen Sie?
In erster Linie müssen weiterhin die qualitativ hochstehenden Freiburger Produkte gefördert werden, herausragende Beispiele sind die verschiedenen geschützten Ursprungsbezeichnungen (AOP), die in den letzten gut zwölf Jahren vergeben wurden. Denken Sie an exportfähige Luxusprodukte, Produkte mit einem Mehrwert, bei denen der Genuss und nicht unbedingt die Gesundheit im Vordergrund steht, für die es jedoch immer Abnehmer geben wird. Auch hier lohnt es sich, sich von anderen Bereichen der Wirtschaft unseres Landes inspirieren zu lassen. Schauen Sie den Erfolg und die prächtigen Exportzahlen der Schweizer Uhrenindustrie an. Daran sollte sich die Freiburger Nahrungsmittelindustrie ein Beispiel nehmen. Auf der anderen Seite müssen wir den Bereichen Gesundheit, Ökologie und Wirtschaft Rechnung tragen…
Das heisst?
Der von den Verbrauchern und Behörden ausgeübte Druck wird unweigerlich den Übergang zu einer Ernährung fördern, bei der weniger Fleisch, weniger verarbeitete Produkte und weniger schlechte Fettsäuren, Zucker oder Salz konsumiert werden. Wir müssen uns daher Milchprodukte für die Zukunft ausdenken, neue proteinhaltige Ersatzstoffe schaffen und Schlachtmethoden entwickeln, die den Erwartungen der Verbraucher besser entsprechen. Substitute, Konservierungsmittel oder gewisse Pflanzenschutzmittel müssen überdacht sowie auf eine gute Umverteilung des Einkommens und die Erhaltung der Umwelt geachtet werden. Es braucht Lösungen, damit weniger Lebensmittel verschwendet und umweltfreundlichere Verpackungen entwickelt werden. Diese Veränderungen werden sich sowohl aus der Summe kleiner Innovationen als auch aus grossen technologischen Umwälzungen ergeben. Ferner braucht es eine Kultur der kalkulierten Risikobereitschaft als auch eine prioritäre Investition des Staates und der privaten Akteure, um die Entwicklung dieses vielversprechenden Sektors zu erleichtern. Die Region Freiburg muss zudem kräftig in den Bereich «From Farm to Fork» investieren.